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Tod in Roth

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tod in Roth

Krimi-Anthologie

ISBN (Buch): 978-3-940627-22-3

Preis: € 8,00 (D); € 8,30 (A)

 

Kurzbeschreibung:

Die beschauliche Stadt Roth in Franken zeigt sich in dieser Krimi-Anthologie von ihrer dunklen Seite. Kriminelle Machenschaften bei der Challenge-Roth, mörderische ältere Damen und viel mehr.

Lassen Sie sich überraschen durch Beiträge von:

  • Britt Glaser
  • Christina Wermescher
  • Jürgen Pigors
  • Marianne Larose
  • Charlie Meyer
  • Spunk Seipel

 

 

Leseprobe:

Charlie Meyer

Erben statt sterben

 

„Ach du heilige Scheiße!“, stieß Marcus Lombardi ungläubig hervor und ließ den Feldstecher sinken. „Die Entenpolizei mit Radarpistole. Haben die nichts Besseres zu tun?“

Den Steuermannsstuhl nach hinten geschoben, die nackten Zehen zwischen die Speichen des hölzernen Steuerrades gehakt, lenkte er die Mathilda mit den Füßen, wie es vor ihm schon sein Vater und Großvater auf den langen graden Strecken der Kanäle getan hatten.

Das Tablet auf dem Schoß, hatte er eben seine Mails abgerufen, als er den Kerl von der Wasserschutzpolizei entdeckte, der auf dem Wirtschaftsweg nördlich des Main-Donau-Kanals stand und die herantuckernden Binnenschiffe anpeilte. Mehr als 10 km die Stunde waren nicht erlaubt, aber Zeit kostete bekanntlich Geld und je schneller die neue Fracht transportiert werden konnte, desto lauter klimperte die Kasse. Marcus hatte es zwar eilig, aber das lag nicht an der Fracht.

Die Mathilda war ein achtzig Meter langes Binnenschiff, 1965 auf der Arminiuswerft in Bodenwerder gebaut, die es schon lange nicht mehr gab, und löste bei den Schiffsführern der modernen Europaschiffe mitleidiges Kopfschütteln aus. Aschenputtel nannten sie das Frachtschiff abfällig, und Marcus ärgerte sich. Eigentlich störte ihn nichts am Schiff, weder jenes fußtaugliche Steuerrad - kein Joystick, o nein – noch die beiden alten Deutz-Maschinen, die schon seit dreißig Jahren mehr oder weniger anstandslos ihren Dienst taten. Nur, wenn der Tag kam, an dem sie ihren Geist aufgaben, würde er das Schiff abwracken und irgendwo anders anheuern müssen. Neue Maschinen konnte er sich ebensowenig leisten wie neue Aggregate. Möglicherweise müsste er als Ablöser arbeiten – immer auf Achse, immer ein neues Schiff, und wenn er nichts fand, würde er auf Parkbänken nächtigen müssen. Eine Bleibe an Land hatte er nicht. Keine Frau, keine Kinder, nur die Mathilda.

Sein Konto war leer. Die letzten Jahre hatte er zunehmend in das Schiff investieren müssen, die Vorschriften wurden immer strenger, die Auflagen härter. Als zweiten Schiffsführer hatte er Andrzej an Bord, einen durch Wodka auf ewig konservierten Polen in den späten Siebzigern mit ledriger Haut, dem er das Gehalt eines Matrosen zahlte, weil er laut Rheinschifffahrtsuntersuchungsordnung nur einen Matrosen brauchte. Doch trotz des niedrigen Lohns schlug seine Heuer zu Buche, auf Dauer mehr noch als dieser technische Firlefanz, den die SUK seit ein paar Jahren forderte. Radar, das automatische Identifizierungssystem AIS und das Ecdis mit dem großen Bildschirm zur Darstellung der elektronischen Flusskarten. Selbst die Umtaufung von Fortuna in Mathilda hatte etwas gekostet, Avancen an seine Großtante Mathilda, die im fränkischen Städtchen Roth lebte und gerade gesegnete Hundertundzwei geworden war, wenn man dem Internet denn glauben durfte.

Trotz seiner Sorgen grinste Marcus Lombardi, und aus dem Rückspiegel grinste sein braun gebranntes, sommersprossiges Gesicht unter den karottenroten Locken zurück. Im Interview mit der Roth-Hilpoltsteiner-Volkszeitung hatte seine ihm bis dato unbekannte Großtante zwei mögliche Erben ihres Vermögens genannt, das sie „… durch ihre Genügsamkeit seit Anbeginn und schlaue Investitionen“ angehäuft hatte. Ihn, Marcus und einen in den USA irgendwo verschollenen Cousin um zwei Ecken namens Johann Lombardi. Eigene Kinder hatte die Großtante nicht. Sieben Tage war es nun her, dass ihm ein unbekannter Wohltäter den Link auf diesen Online-Artikel an seine Mailadresse geschickt hatte.

Das Ecdis zeigte auf Höhe von Roth eine Liegestelle bei Kanalkilometer 92 an, und während Matrose Andrzej, nach dem routinierten Vertäuen des Frachters, seinen klapprigen Liegestuhl nach Achtern schleppte und träge in die Sonne blinzelte, eine Wodkaflasche im Würgegriff, machte sich Marcus Lombardi landfein. Jeans, kariertes Hemd, Sandalen.

Dann schob er sein Fahrrad den Wirtschaftsweg des Wasser- und Schifffahrtsamtes zur Brücke hoch und radelte mit Schwung die Allersberger Straße hinunter in die Stadt, so wie er sie fünfundzwanzig Jahre zuvor mit Schwung hinter sich gelassen hatte, um an demselben Liegeplatz die Schiffsführer der vertäuten Frachter dort um einen Job als Decksmann anzubetteln. Ohne Heuer. 

Jetzt, mit einundvierzig, kam er zurück, sich das zu holen, was ihm die Schicksalsgöttinnen bisher verwehrt hatten: Geld. Viel Geld. So viel Geld, das niemand es mehr wagen würde, die Fortuna, sorry, die Mathilda natürlich, Aschen-puttel zu schimpfen. Hoffte er zumindest. Wie groß das Erbe war, hatte Großtante Mathilda im Interview nicht preis-gegeben, dafür die Straße, in der sie noch immer in den eigenen vier Wänden wohnte, wenn auch mit Hilfe der Nachbarinnen, die sie mit allem versorgten, was der Mensch zum Überleben benötigte.

Sie war Einhundertundzwei, da war ein Ende abzusehen und er, bis auf den verschollenen USA-Cousin, offenbar ihr einziger Blutsverwandter. Marcus Lombardi war kein Franke, sondern in der Schifferstadt Vlotho geboren. Bis zum Schulalter wuchs er auf dem Frachtschiff seines Vaters auf, dann lief irgendetwas schief und seine Eltern ließen sich scheiden. Die wechselnden Liebschaften seiner Mutter verschlugen ihn danach mal hierhin, mal dorthin: Ostfriesland, Thüringer Wald und schließlich Roth im Frankenland. Sechs Monate lief die Beziehung, dann tat sich sein Stiefvater Nr. 5 wieder mit seiner Ex zusammen. Sonja, Marcus Mutter, schluckte Tabletten und stülpte sich eine Plastiktüte über den Kopf. Er selbst, gerade sechzehn Jahre geworden, trampte zum Kanal, bevor ihn jemand vermisste. Shit happens.

Großtante Mathilda bewohnte in der Traubengasse mit zwei anderen Parteien ein zweistöckiges gelbes Haus mit einem durch Gesimse gegliedertem Renaissancegiebel und einem Rundbogenportal. Das Haus stand ganz in der Nähe zum mittelalterlich anmutenden Marktplatz und nur zwei Häuser vom Gasthaus Zur Weintraube entfernt. Sie öffnete in persona auf sein Klingeln und sah zu seiner Bestürzung weder wie Hundertundzwei aus, noch als würde sie demnächst den Löffel abgeben. Allenfalls neunzig und fit. Marcus Lombardi rang sich ein breites Lächeln ab und hielt ihr einen überdimensionalen Strauß roter Rosen entgegen.

„Der Marcus?“, fragte sie nach seiner artigen Vorstellung und starrte ihn misstrauisch an. „Gibt es in meiner Familie einen Marcus?“

Marcus Lächeln drohte abzurutschen, als er aus seiner lichten Höhe von 1,90 m auf diese Zwergin herabsah, die seine Großtante sein sollte. War sie dement? Möglicher-weise schon entmündigt? War der Artikel ein Fake gewesen?

„Einen John auch nicht.“ Großtante Mathilda runzelte die runzlige Stirn und Marcus starrte auf die dichten weißen Haare, die in Wellen gelegt waren. Eine Perücke? „Aber komm ruhig rein, Marcus, den es nicht gibt und lern den John kennen, den es ebenfalls nicht gibt. Solltet ihr mich umbringen wollen, ich habe einen Alarmknopf.“

Marcus fehlten die Worte. Sekunden später zog er den Kopf ein, um unter dem Türbalken diese Puppenstube zu betreten, die Großtante Mathilda ihren Salon nannte. Zwei Plüschsessel vis à vis eines Plüschsofas, dazwischen ein rundes Glastischchen mit Häkeldecke. Ein riesiger Wandschrank aus dunkler Eiche, eine Stehlampe mit Quasten und in einem der Plüschsessel ein stämmiger Kerl mit Bürstenhaarschnitt in Camouflage-Drillich-hosen, der ein chinesisches Teetässchen an die Lippen führte. Seine Muskeln wölbten sich unter einem grauen T-Shirt mit der Aufschrift ARMY. Sein Gesicht war glatt rasiert, die Augen klein und tückisch, die Lippen rot und voll.

Marcus verabscheute ihn auf Anhieb, und dem Gesichts-ausdruck seines Gegenübers nach, beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit. Auf dem Tisch prangte das nicht minder kleine Gegenstück zu seinem Strauß roter Rosen.

„Hi“, sagte er halbherzig und versenkte die Hände in den Hosentaschen seiner schlabbrigen Jeans. „Bist du der verschollene Cousin?“

Sein Gegenüber brummte Unverständliches.

„Keine Bange“, insistierte Großtante Mathilda. „Er kann sprechen und das sogar in Deutsch. Er ist nur etwas schüchtern.“